Ab dem 29. November hört man eigenwillige Gesänge in den Strassen Palermos. An den neun Tagen bis zur Unbefleckten Empfängnis Mariens am 8. Dezember werden die Gebete singend und musikalisch untermalt vorgetragen. Aus diesem Grund werden sie die Novena genannt und dienen zur Fürbitte oder um besondere Gnade zu erflehen. Doch auch danach werden in den Häusern, vor den Altären oder Krippen und in den Strassen vor den Votivschreinen bis zu Drei Könige am 6. Januar die traditionellen Gebet-Gesänge aufgeführt. Die Musiker kennt man hier auf der Insel als Orbi oder Ciechi - die Blinden.
Wie viele von diesen Musikanten in der Geschichte tatsächlich blind waren, ist nicht bekannt. Viel interessanter ist die Frage nach dem Ursprung der Sage vom blinden Sänger. Die Antwort können wir in der Antike aufspüren. Die Gesänge sind eine Art des Erzählens und das Erzählen war immer ein wichtiger gesellschaftlicher Kitt. Die Homerischen Epen aus dem 9. Jh. v.Chr. gelten mitunter als Gründungsmoment der europäischen Literaturgeschichte. Und: Homer war blind; so wird es uns zumindest durch die antiken Skulpturen vermittelt. Die Altphilologin Barbara Graziosi interpretiert die Blindheit von Homer dahingehend, dass ihn die Götter mit einer derart grossen Gabe an Dichtkunst ausgestattet hätten, dass sie die Blindheit kompensieren würde. Das bedeutet, dass die Dichtung des Homer durch dessen Blindheit also noch gesteigert wurde und als besonders wahrhaftig galt. Die Wahrhaftigkeit einer Erzählung oder eines ganzen Epos war für das Publikum natürlich von zentraler Bedeutung. Und, so die antike Vorstellung, ein Blinder erkennt die Wahrheit besser. Paradigmatisch steht dafür Teiresias. Als Strafe wurde er von den Göttern mit Blindheit geschlagen, doch aus der Blindheit erwuchs seine Sehergabe und er wurde zur unumstrittenen prophetischen Autorität. Man sieht: Der Blinde sieht die Wahrheit klarer. Auch in anderen Kulturen ist eine ähnliche Verbindung zwischen Blindheit und Autorität vorhanden. Das japanische Epos Heike Monogatari wurde jahrhundertelang mündlich tradiert, vorgetragen von blinden Sängern. Die Tradition von blinden Sängern wird in einem Bild des italienischen Barockmalers Matia Preti illustriert (Homer, 1635. Galleria dell’Accademia, Venezia). Er stellt den antiken Ependichter Homer als Blinden dar. Mit dem Lorberkranz bekrönt wird er als Dichter ausgewiesen, doch die Violine zeigt ihn als Sänger. Hier sehen wir die Verbindung zwischen dem antiken Typus des blinden Weisen und dem blinden Sänger in den Strassen Palermos.
Im 17 Jahrhundert erkannte die Kirche die Bedeutung der wandernden Musiker. Im Jahr 1661 wurde in der Jesuitenkirche von Palermo (Bild unten) eine Vereinbarung zwischen dem Orden der Jesuiten und der Bruderschaft der Wandernden Musiker getroffen. Die Musiker erhielten ein sicheres Einkommen von der Kirche, als Gegenleistung trugen Sie aber nur noch ein von der Kirche vorgeschriebenes musikalisch-liturgisches Programm an Gesängen im Sizilianischen Dialekt vor und trugen damit die gegenreformatorische Agenda unters Volk. Die wandernden Musiker übernahmen so singend propagandistische Aufgaben für die Kirche. Vielleicht deswegen sind die Orbi bis heute erhalten geblieben. Die Auftraggeber sind heute Privatpersonen. So hört man noch heute ihre Gesänge und Instrumente in Privatresidenzen, Pupi-Theatern oder in den engen Strassen Siziliens.
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