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Fabian Felder

Die Mutter aller Parlamente trägt kein griechisches Gewand

Der Geburtsort der Demokratie wird wohl nicht ganz falsch in Griechenland und in der athenischen Polis der Antike gesucht. Mit der Magna Charta von 1215, die dem englischen Adel großflächig neue Rechte verleiht und dem Montfort’s Parliament, welches am 20. Januar 1265 in der Westminster Hall in London das erste Mal zusammentritt, spricht man aber nicht umhin vom britischen Parlament, dass in dieser Form seit 1801 in London als das Parlament des Vereinigten Königreiches tagt, als Mutter aller Parlamente.


Bereits im Mittelalter befand sich an der Stelle des heutigen Palace of Westmintser in London ein Königspalast, welcher von Eduard dem Bekenner gleichzeitig mit der Westminster Abbey errichtet worden war. Von diesen Palastgebäuden haben sich aber keine Spuren erhalten. Sehr wohl aber findet sich mit der Westminster Hall aus der Zeit um 1100 ein Zeugnis der royalen Nutzung dieses Gebietes unter Wilhelm II. Während der Königspalast im Spätmittelalter zeitweise sogar als Hauptresidenz der englischen Könige diente, war es ebenjene unter Wilhelm II. gebaute Halle, welche als erster Tagungsort des Montfort’s Parliament ab 1265 diente. Auch das folgende und ab 1295 tagende ‚Model Parliament‘, das erste offizielle Parlament Englands, sowie alle folgenden englischen Parlamente und ab 1707 auch alle britischen Parlamente trafen sich an jenem Ort. Während der Tagungsort über Jahrhunderte der gleiche blieb, wechselten die Parlamentarier. Und nicht nur dieses, auch das Gebäude, in welchem sich die Repräsentanten der Monarchie und später des Vereinigten Königreiches trafen, erlebten im Laufe ihrer Geschichten drastische Veränderungen. Bereits 1512 wurden die Wohnbereiche des Palastes durch einen Brand zerstört, Heinrich VIII. verlegte seine Residenz in der Folge in den Palace of Whitehall, im Palace of Westminster verblieben die beiden Kammern des Parlamentes und die königlichen Gerichte. Spätestens jetzt kam es zur Trennung von Parlament und königlicher Residenz, welche in der Folge nie mehr zusammenfinden sollte. Im 18. Jahrhundert musste der Palace of Westminster überarbeitet werden. Das in die Jahre gekommene Haus genügte nicht mehr den Anforderungen der Parlamentarier und der Geschäfte der beiden Kammern. Der englische Architekt John Vardy wurde mit den Umbaumaßnahmen betraut und veränderte auch die Fassade des Palastes im palladianischen Stil. Schlichte, klassische Formen griechischer Prägung verwiesen auf den Ort der ersten Parlamente und sollten auch dem britischen Parlament sein Gepräge geben. Der Palast blieb eine Akkumulation diverser Gebäude aus unterschiedlichen mittelalterlichen Zeiten. Die Innenräume wurden von diversen Architekten neu geplant und umgestaltet.


Am 16. Oktober 1834 ergriff ein Feuer den Palast, die Parlamentsgebäude waren nicht zu retten. Das Feuer griff von einem Gebäude auf das nächste über. Die Feuerwehr konzentrierte sich schlussendlich auf den Schutz der Westminster Hall. Dank der großen Anstrengung und des Drehens des Windes wurden sie, der Jewel Tower sowie der Kreuzgang von St. Stephan als einzige mittelalterliche Bauglieder von dem verheerenden Brand verschont. Das Desaster war perfekt. König Wilhelm IV. erkannte die Gunst der Stunde und trat als großer Gönner auf. Er schenkte dem Parlament den beinahe fertiggestellten Buckingham Palace als neues Parlamentsgebäude. Uneigennützig war die Handlung nicht, der König mochte seine neue Residenz ganz und gar nicht und sah sich so in der Möglichkeit, diese loszuwerden und gleichzeitig als Wohltäter aufzutreten. Die Parlamentarier aber rochen den Braten, die schlechte Nutzbarkeit des Buckingham Palace als Parlamentsgebäude erkennend, und gaben das Geschenk dankend zurück. Bis heute ist der Buckingham Palace die offizielle Residenz der Könige des Vereinigten Königreiches. Es führte nichts daran vorbei, ein Neubau musste her. 1835 konnte sich der englische Architekt des Klassizismus, Sir Charles Barry, mit seinen Neubauplänen durchsetzen, ab 1840 wurde der neue Palace of Westminster errichtet. Wer jetzt ein Parlamentsgebäude im griechischen Stil erwartet, wird bitter enttäuscht werden.

Der Neubau mit über 1‘100 Räumen, hundert Treppenhäuser und drei markanten Türmen erscheint im Perpendicular Style, einer der drei englischen Stile der Gotik. Die englische Gotik wird unterschieden in drei Stilepochen. Early Englishfür die Zeit vom späten 12. bis zum späten 13. Jahrundert, Decorated Gothic für das gesamte 14. Jahrhundert und den eben genannten Perpendicular Style für die Zeit des 14. bis zum späten 17. Jahrhundert. Eben jene letzte Phase gotischen Stils auf der britischen Insel, die in der Deutung eng mit der Dynastie der Tudors (Heinrich VIII. und Elizabeth I.) in Verbindung gebracht wurde, nutzte Barry für die Dekoration des neuen Parlamentsgebäudes. Die Wiederverwendung historischer Bauformen im 19. Jahrhundert war kein Privileg des Vereinigten Königreiches, sehr wohl war es aber der Ort wo es zuerst geschah. Während man auf dem europäischen Festland herablassend von Neogotik, oder heute wertfrei von Neugotik spricht, verwendete man dort die Bezeichnung Gothic Revival, die Wiederbelebung der Gotik. Schauen wir aber auf die Datierung des Perpendicual Styles, so fällt auf, dass dieser ununterbrochen bis zum späten 17. Jahrhundert Verwendung fand, es gibt also lediglich eine Lücke gotischer Formen in England für die Zeit des 18. Jahrhunderts. Aus diesem Grund spricht die kunsthistorische Forschung heute auch von einem Gothic Survival, ein Überleben gotischer Formen, wie man es auf dem europäischen Kontinent nicht finden kann. Dort wurde mit der Reformation und der folgenden Kriege ein radikaler Bruch zu den gotischen Formen des Mittelalters gesucht. Einerseits durch die Reformation, vor allem aber durch die tiefgreifenden Veränderungen des Barocks, haben sich nicht nur die Kirchen, sondern auch die Profanbauten Festlandeuropas deutlich verändert. Eine Veränderung, die wir derart auf der Insel nicht beobachten können. Es wäre aber falsch, zu behaupten, der Palace of Westminster wäre einfach ein spätmittelalterliches Gebäude. Er ist ein durchaus modernes Gebäude. Ein Blick auf den Grundriss zeigt eine rechteckige Anordnung der Gebäudeflügel sowie die regelmäßige Organisation der Fassade: alle Fenster liegen in abfolgenden Achsen über- und nebeneinander. Die mittelalterlichen Gebäudeteile scheren aus dieser symmetrischen Anlage aus und mussten mühsam in den Grundriss integriert werden.



Darüber hinaus ist der Palace of Westminster vor allem ein Funktionsbau. Er besitzt keinen repräsentativen Haupteingang; die unterschiedlichen Gruppen nutzen unterschiedliche Eingänge. So erreichen die Mitglieder des Unterhauses das Parlament über den sogenannten ‚Member’s Entrance‘ an der Nordseite des Gebäudes, um über den Hof und durch den mittelalterlichen Kreuzgang mit der Garderobe direkt ins Unterhaus zu kommen. Dagegen betritt die Königin das Parlamentsgebäude an der alljährlichen feierlichen Eröffnung des Parlamentes das Gebäude an der südwestlichen Ecke unter dem Victoria Turm durch den ‚Sovereign’s Entrance‘, steigt über das Königliche Treppenhaus in den Ersten Stock, durchschreitet den „Norman Porch“ und die repräsentativen Räume und gelangt so ins Oberhaus, wo die Zeremonie stattfindet. Die Lords und Ladies des Oberhauses gelangen übrigens ebenfalls über ein eigens Treppenhaus und einen eigenen Eingang ins Oberhaus. Dieser kleine Einblick lässt erkennen, dass hier nicht ein mittelalterliches Gebäude, sondern ein durchaus zeitgenössisches Gebäude, den Anforderungen seiner Zeit gerecht werdend, geschaffen wurde. Beim repräsentativen Dekor wählte Barry aber mittelalterliche Formen, die der noch bestehenden Westminster Hall am ehesten entgegenkamen und so ein zweites Sammelsurium unterschiedlicher Stile und Gebäudetypen verhinderte. Einheitlichkeit scheint der übergeordnete Anspruch gewesen zu sein. Damit dies auch im Innern des Parlamentsgebäudes gewährleistet wurde, kam ihm bei der Raumgestaltung Augustus Pugin zu Hilfe. Der führende Vertreter des Gothic Revival/Survival übernahm die Leitung bei der Innenarchitektur. Auf diese Weise entstand ein Repräsentationsbau, der trotz mittelalterlicher Gebäudeteile einheitlich daherkommt, im Stil auf das Goldene Zeitalter der Tudors verweist und gleichzeitig den Anforderungen eines modernen Parlamentsbetriebes nachkommen kann.


Im Herzen aber blieb Barry ein klassizistischer Architekt und wahrscheinlich dürfte es ihm durchaus schwergefallen sein, diesen Ort der Politik in das Gewand der Tudorgotik zu kleiden. Das zeigt sich nicht nur an der strengen Anordnung der Fenster, sondern auch an der regelmässigen Ausgestaltung der Gebäudeflügel und der angestrebten Symmetrie, die man am besten an der Fassade zur Themse erkennen kann, wo er durch keinerlei mittelalterliche Gebäudereste in seiner Planung gestört wurde. Hier finden wir eine flache, symmetrische Fassade mit vorspringenden Eckrisaliten, wie wir sie eher an einem klassizistischen Gebäude erwarten würden.


Das blieb auch den Zeitgenossen nicht verborgen; Augustus Pugin war am Ende nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Die gotischen Elemente erschienen ihm nur aufgeklebtes Dekor zu sein, die Grundsubstanz war zu deutlich klassizistisch. "All Grecian, Sir; Tudor details on a classic body" (Durch und durch Griechisch, Sir, Tudor Details auf einem klassischen Körper). Die Mutter aller Parlamente trägt ein gotisches Kleid englischer Prägung, die Physis, wenn wir Pugin glauben wollen, kommt aber aus Athen.


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