Die Monti Sacri (Heilige Berge) im Piemont sind weitläufige Kapellenanlagen und Pilgerstätten, die im späten 16. und 17. Jahrhundert auf Bergen und an Seen errichtet und jeweils bestimmten Aspekten des christlichen Glaubens gewidmet wurden. Angelegt als Imitation der christlichen Stätten von Jerusalem erlebten sie, angestossen durch Kardinal Federico Borromeo, im barocken 16. und 17. Jahrhundert im Gefolge der katholischen Gegenreformation einen grossen Aufschwung. Zusätzlich zu ihrer symbolischen und spirituellen Bedeutung sind sie von großer Schönheit und harmonisch in die Landschaft eingepasst. Der Ursprung für diese Gruppe von Wallfahrtsorten ist der Sacro Monte von Varallo südlich des Monte Rosa.
Nachdem ich bei der Planung unserer Fahrt zu den Monti Sacri die Bilder von Dr. Rose Schulz-Rehbergs Studienreise gesehen hatte, realisierte ich: das ist Netflix aus der Gegenreformation! Da folgen die Szenen aufeinander wie in einer Staffel nach der anderen. Man will immer mehr sehen und bekommt nie genug von diesen spannenden Szenen. Nur, man sitzt nicht vor dem Fernseher, sondern spaziert von einer Kapelle zur anderen und betritt selbst immer neue Szenerien.
In dieser Szene (ecce homo) zeigt der römische Statthalter Pontius Pilatus dem Volk den gefolterten Jesus von Nazareth. Die jüdischen Anführer fordern Jesu Kreuzigung. Beim Besuch dieser Kapelle kommt man sich vor wie im Theater: Ein Gesamtkunstwerk vom Allerfeinsten – unterhaltsam und mit vielen z.T. bizarren Details. Da muss man nicht die Bibel lesen können. Da wird einfach erzählt. Das gilt genauso für die Grablegung wie für alle weiteren Kapellen.
Künstlerisch sind die biblischen Szenen auch wegen der Verwendung und Vermischung verschiedener Medien und Materialien interessant. Die Erzählungen fliessen von den Hintergrundfresken zu den farbigen Statuen hinüber. Es fühlt sich an, als stünde man selbst inmitten der biblischen Geschichte.
Die Aufgabe der Monti Sacri war es, da die meisten Leute schlecht oder nicht lesen konnten, zentrale Geschichten aus der Bibel wiederzugeben. So zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte. In dieser Kapelle wird es klar, dass es bei der Vertreibung aus dem Garten Eden um eine sehr ernste Angelegenheit geht. Die Schlange sieht sehr bedrohlich aus. Links von ihr: da ist die Welt ist noch in Ordnung. Adam und Eva geniessen die paradiesische Natur. Rechts: die Vertreibung. Da ergreifen auch die Tiere die Flucht und laufen dem Betrachter entgegen.
Und oben in der Kapellenkuppel schaut der Herrgott zornig und ganz ernst herunter. Und erscheint einmal im 3-D, auf den Wolken thronend und einmal im Fresko. Hier mit einem besser frisierten Bart. Damit man sich nicht täuscht, wird er beide Male mit der gleichen Farbkodierung und dem gleichen Gestus dargestellt.
Wieder draussen braucht man ein wenig Zeit, um in die Gegenwart zurückzufinden. Die Sonne Italiens und der Blick in die liebliche Umgebung helfen einem dabei, wie es dieser Ausblick auf die Insel San Giulio bezeugt.
Dann geht es weiter zur nächsten Kapelle und der nächsten Szene ... spazierend, diskutierend und manchmal lächelnd durch diese fantastischen religiösen Bildwelten.
Im Juni möchte Sie Dr. Rose Schulz-Rehberg auf diese Zeitreise durch die Geschichte und die Landschaften der Heiligen Berge voller Einfallsreichtum der Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts mitnehmen. Mehr zur Reise erfahren Sie hier.
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts kamen "lebendige Bilder" - sog. Tableaux vivants - auf. Solche Darstellungen von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen verwendete beispielsweise die Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orléans (Madame de Genlis) zur Belehrung und Unterhaltung ihrer Zöglinge. Ob sie sich bei den Monti Sacri davon inspirieren liess, ist uns nicht bekannt.
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